Die Bedeutung der Gottesmutter Maria im Leben ihres Sohnes Jesus Christus ist schon rein äußerlich dadurch belegt, dass sie im Neuen Testament hundertzweiundvierzigmal erwähnt wird. Von der Krippe bis zum Kreuz, in Betlehem und Nazaret, auf der Flucht nach Ägypten und auf der Wallfahrt nach Jerusalem: Immer stand Maria ihrem Sohn zur Seite. Weil die menschliche Erfahrung zu allen Zeiten lehrt, dass Vater und Mutter mit ihrer Wesensart, ihrem Vorbild, ihrem Charakter und ihren Überzeugungen sehr stark in ihren Kindern weiterleben können, deshalb ergibt sich wie von selbst die Frage: Wieviel von Marias Wesensart steckt in Jesus von Nazaret? Wir können davon ausgehen, dass Maria ihren Sohn nicht nur charakterlich und emotional nachhaltig geprägt hat, was aus der langen Zeit von etwa 30 Jahren hervorgeht, die Jesus bei seinen Eltern in Nazaret verbracht hat. Auch die elementare Bildung und Schulung der Vernunft eines Kindes lag hauptsächlich in den Händen der Mutter. Zur Zeit Jesu konnte ein Kind nicht erst in der Synagoge lesen und schreiben lernen. Jede gute und gottesfürchtige Mutter fing schon lange davor an, ihrem Kind Gebote und Bibelverse zu erklären und Psalmen zu beten, die sie selbst auswendig kannte. Womöglich hat sie sogar mit ihrem Kind gesungen, wie es bei dem Sprechgesang der Psalmen in den Synagogen schon damals üblich war. So wurde also Maria zur ersten und wichtigsten Lehrerin ihres Sohnes. Sie lehrte ihn beten und lehrte ihn, nachzudenken. Sie war seine vornehmste Erzieherin, die zu seiner geistigen Entwicklung ebenso sehr beigetragen hat wie zu seiner Herzensbildung. Maria war die erste und wichtigste Gesprächspartnerin für ihren Sohn Jesus. Sie ist seinem Wissensdurst begegnet und hat seine Fragen beantwortet. Was bei der Mutter in Nazaret grundgelegt wurde, hat sich beim zwölfjährigen Jesus im Tempel von Jerusalem zu voller Blüte entfaltet: „Er saß mitten unter den Lehrern, hörte ihnen zu und stellte Fragen. Alle, die ihn hörten, waren erstaunt über sein Verständnis und über seine Antworten.“ (Lk 2, 46-47) Von wem er das alles hatte, ist nicht schwer zu erraten: natürlich von seiner Mutter, einer klugen und weitsichtigen Frau, die die Liebe zu Gott und die Kraft des Heiligen Geistes im Herzen ihres Sohnes genährt hat.
Maria hat offensichtlich über ein ausgezeichnetes und tiefsinniges Bibelwissen verfügt, wie ihr Lobgesang im Haus der Elisabeth beweist: „Meine Seele preist die Größe des Herrn, und mein Geist jubelt über Gott, meinen Retter.“ (Lk 1, 46-47) Aus ihrem Lobpreis spricht eine innige Liebe zu Gott, die sie ihrem Sohn buchstäblich in die Wiege gelegt hat. Aber auch die Liebe zu den Menschen und die Sehnsucht nach Erlösung, nach Freiheit und Gerechtigkeit für das Volk Gottes sprechen aus ihrem Lobpreis: Gott „stürzt die Mächtigen vom Thron und erhöht die Niedrigen. Die Hungernden beschenkt er mit seinen Gaben und lässt die Reichen leer ausgehen.“ (Lk 1, 52-53) Maria steht vor uns als Mutter mit einem großen Herzen, voller Gottvertrauen, aber auch voller Interesse am Schicksal ihres Volkes, mutig und vorausschauend, klug und fromm. Das war der allerbeste Mutterboden für die geistige Entwicklung ihres Sohnes, von dem es in der Bibel heißt: „Das Kind wuchs heran und wurde kräftig; Gott erfüllte es mit Weisheit und seine Gnade ruhte auf ihm.“ (Lk 2, 40) Maria muss eine große und starke Frau gewesen sein, die das Allerbeste der Begabung des Volkes Israel an ihren erstgeborenen Sohn weitergegeben hat. Als junger Mann hat Jesus genau diese Sehnsucht nach Erlösung und Freiheit, die aus dem Lobpreis Marias gesprochen hat, zum Inhalt seiner göttlichen Sendung gemacht. In der Synagoge von Nazaret sagte er:„Der Geist des Herrn ruht auf mir; denn der Herr hat mich gesalbt. Er hat mich gesandt, damit ich den Armen eine gute Nachricht bringe; damit ich den Gefangenen die Entlassung verkünde und den Blinden das Augenlicht; damit ich die Zerschlagenen in Freiheit setze und ein Gnadenjahr des Herrn ausrufe.“ (Lk 4, 18-19)
Aber auch das, was wir heutzutage “emotionale Intelligenz” nennen, hat Maria ihrem Sohn in reichem Maße mit auf den Weg gegeben. Die besten Eigenschaften einer guten Mutter sind in Jesus zum Tragen gekommen: sein Einfühlungsvermögen, Mitgefühl und Barmherzigkeit, Liebe und Fürsorge, Verständnis und Nachsicht, Selbstlosigkeit, Familiensinn, Opferbereitschaft und Hilfsbereitschaft, ein mütterliches, tröstendes und um alles besorgtes Wesen. Überhaupt können wir sagen, dass die aus Vater und Mutter zusammengesetzte Elterninstanz, wie sie Jesus in seinem Elternhaus in Nazaret vorgelebt bekam, seine Persönlichkeit ebenso positiv geformt hat wie sein durch und durch von Güte und Liebe durchdrungenes Gottesverständnis. Gott ist für ihn die Liebe, wie ein Vater, der sich seiner Kinder erbarmt, und wie eine Mutter, die ihre Kinder auf den Knien schaukelt. (vgl. Jes 66, 13)
Bis heute lebt die Bedeutung der Frau und Mutter im Alltag der jüdischen Familie fort. Rabbi Nissan Dovid Dubov beschreibt die Rolle der Frau im heutigen Judentum so zeitlos und anschaulich, dass damit eigentlich auch Maria von Nazaret gemeint sein könnte: „In einem jüdischen Haushalt wird die Ehefrau und Mutter die Stütze des Hauses genannt. Sie bestimmt zum Großteil den Charakter und die Atmosphäre des Hauses. Ein jüdischer Haushalt ist etwas Besonderes, weil er in jeder Hinsicht den Toravorschriften gemäß funktioniert. So wird das Haus eine Wohnstätte für die Göttliche Gegenwart, ein Heim für Göttlichkeit, von dem Gott sagt: „Macht mir eine Wohnstätte, und ich werde unter euch wohnen.“ (Ex 25, 5) Es ist ein Haus, wo Gottes Gegenwart an jedem Tag der Woche zu spüren ist, und zwar nicht nur beim Beten und Toralernen, sondern auch beim Essen und Trinken. Es ist ein Haus, wo Mahlzeiten bereits ein heiliger Gottesdienst sind, die durch das Waschen der Hände vor dem Essen, durch die Segenssprüche über dem Essen sowie durch den Segen nach der Mahlzeit geheiligt werden. Es ist ein Haus, in dem die Beziehung zwischen Ehemann und Ehefrau durch das genaue Einhalten der Gesetze geheiligt wird. Sie ist von dem Bewusstsein durchdrungen, den aktiven dritten Partner Gott in die Schöpfung neuen Lebens voll einzubeziehen. Eine solche Beziehung legt den Grundstock dafür, dass die Kinder heilig und rein, mit reinem Herzen und Geist geboren werden, was sie später in die Lage versetzt, den Versuchungen ihrer Umgebung zu widerstehen. Gleichzeitig bilden die Gesetze die Grundlage für Friede und Harmonie im Haus, was wiederum dazu beiträgt, die Familie als Einheit aufrecht zu erhalten. Es ist ein Haus, in dem die Eltern wissen, dass es ihre wichtigste Pflicht ist, in ihren Kindern von Anfang an Liebe und Ehrfurcht vor Gott sowie Freude an den Geboten zu wecken. Jüdische Eltern sollten wissen, dass das größte und tatsächlich einzige Erbe, dass sie ihren Kindern hinterlassen können, die Tora und die jüdischen Traditionen sind. Sie ist ihre Lebensquelle und tägliche Anleitung. Es ist ein Haus, in dem die jüdische Ehefrau und Mutter als „erste Priesterin des Hauses“ das Sagen hat, denn es ist ihre Aufgabe und ihr Privileg, ihrem Haus die jüdische Atmosphäre zu geben. Die jüdische Ehefrau und Mutter hat das Privileg, den heiligen Sabbat durch das Kerzenanzünden am Freitag vor Sonnenuntergang einzuleuchten. Dadurch erhellt sie tatsächlich und symbolisch ihr Haus mit Frieden und Harmonie, mit dem Licht der Tora und der Gebote. So ist es vor allem ihr Verdienst, dass Gott ihrem Ehemann, ihren Kindern und dem ganzen Haushalt den Segen wahren Glückes gibt.“
Ulrich Manz