Gesprengte Ketten

Gesprengte Ketten zu Füßen der Freiheitsstatue in New York

Gesprengte Ketten zu Füßen der Freiheitsstatue in New York

„Den Gefangenen die Entlassung, den Zerschlagenen die Freiheit!“ (Lk 4,18) So hat Jesus in der Synagoge von Nazareth seine neue und frohe Botschaft verkündet. Später sollte der Apostel Paulus im Rückblick auf Jesus Christus sagen: „Wo der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit!“ (2 Kor 3,17) Können wir, die wir seit Jahrzehnten in Frieden, Freiheit und Wohlstand leben, überhaupt noch ermessen, welches Gewicht diese Worte in der damaligen Zeit hatten? Ist uns bewusst, welche zentrale Rolle das Thema Freiheit in der Menschheitsgeschichte spielt? Wie schwer und blutig jedes Stückchen Freiheit in Jahrtausenden errungen werden musste?

Es geht schon damit los, dass zu den dunkelsten Kapiteln der Menschheitsgeschichte die Geschichte der Sklaverei gehört. Das gibt es nirgends sonst im Tierreich, dass Lebewesen einander in Ketten legen und versklaven. Das gab es selbst bei den gebildetsten Völkern, bei den Ägyptern, bei den Griechen, bei den Römern, bei den europäischen Kolonialmächten und bis heute unübertroffen in den Vereinigten Staaten von Amerika. Sie brauchten einen blutigen Bürgerkrieg, um Ende des 19. Jahrhunderts der Sklaverei von Millionen Afrikanern ein Ende zu setzen. Alles zusammengerechnet, wurden vom 16. bis zum 19. Jahrhundert etwa 40 Millionen Menschen weltweit als Sklaven gehalten. Nun könnte man sagen: Das ist schlimm, aber das gibt es doch heute gar nicht mehr. Weit gefehlt! Eine Erhebung des Global Slavery Index 2018 besagt, dass weltweit 40 Millionen Männer, Frauen und Kinder wie Sklaven gehalten werden, 25 Millionen in Zwangsarbeit und Kinderarbeit, und 15 Millionen Frauen in Zwangsehen und Kinderehen.

„Den Gefangenen die Entlassung, den Zerschlagenen die Freiheit!“ Jetzt können wir vielleicht besser verstehen, welches Gewicht und welche Aktualität diese Worte Jesu Christi bereits vor 2000 Jahren hatten. Auch das Leben des heiligen Sebastian inmitten des römischen Kaiserreichs im 3. Jahrhundert hat mit Ketten, Verfolgung und Sklaverei zu tun, und zwar mit der Christenverfolgung unter Kaiser Diokletian. Ein bedeutender Teil der Legende des heiligen Sebastian betrifft sein Wirken als römischer Offizier in den römischen Kerkern, wo Christen in Ketten gelegt und anschließend hingerichtet wurden. Sebastian hat sich um die Gefangenen gekümmert, wie unser Herr Jesus es sich gewünscht hatte, als er sagte: „Ich war krank, und ihr habt mich besucht; ich war im Gefängnis, und ihr seid zu mir gekommen.“ (Mt 25,36) Auch beim Thema Christenverfolgung könnte einer sagen:  Das ist schlimm, aber das gibt es doch heute gar nicht mehr. Weit gefehlt! Das christliche Hilfswerk Open Doors schätzt, dass aktuell mehr als 200 Millionen Christen weltweit verfolgt oder diskriminiert werden. Damit ist das Christentum die weltweit mit Abstand am meisten verfolgte Religionsgruppe.

„Den Gefangenen die Entlassung, den Zerschlagenen die Freiheit!“ Dieses Kernanliegen der Botschaft Jesu Christi darf nicht in Vergessenheit geraten. Unterstützen wir alle Bestrebungen zu mehr Religionsfreiheit, wie sie in unserem Grundgesetz und in den Menschenrechten bereits verankert ist. Unterstützen wir aber auch die Theologie der Befreiung, die sich so mutig für die Ärmsten der Armen in Lateinamerika einsetzt. Ein brasilianischer Bischof hat einmal gesagt: „Jede Theologie ist entweder befreiend oder sie ist keine Theologie.“ Stehen wir also zu der erlösenden, befreienden, die Ketten sprengenden Kraft des Evangeliums! Im Exsultet der Osternacht heißt es: „Dies ist die selige Nacht, in der Christus die Ketten des Todes zerbrach und aus der Tiefe als Sieger emporstieg.“ Danke, Jesus, dass du uns diese Freiheit gebracht hast, die Freiheit von Sünde und Schuld, die Freiheit von Ängsten und Zwängen, die Freiheit und Herrlichkeit der Kinder Gottes (Röm 8,21), zu der wir alle berufen sind.

Aus aktuellem Anlass müssen auch die schweren Ketten zur Sprache kommen, mit denen die Amtsträger der römisch-katholischen Kirche unzählige unschuldige Gläubige, meist Kinder und Jugendliche, zutiefst verletzt haben. Aus den Missbrauchsgutachten der jüngsten Vergangenheit wird überdeutlich, dass führende Bischöfe und Kardinäle nichts dagegen getan haben, dass Kinder und Jugendliche über Jahrzehnte sexuell missbraucht worden sind. Im Gegenteil: Durch Vertuschungen und Versetzungen der Missbrauchstäter haben diese Bischöfe aktiv dazu beigetragen, dass die Ketten des Missbrauchs sich sogar noch verfestigen konnten und dass für die Opfer lange Zeit kein Entkommen möglich war. Diese Ketten müssen gesprengt werden, koste es, was es wolle. Mahnend dringt das Wort unseres Herrn Jesus Christus an unser Ohr: „Wer einen von diesen Kleinen, die an mich glauben, zum Bösen verführt, für den wäre es besser, wenn er mit einem Mühlstein um den Hals im tiefen Meer versenkt würde.“ (Mt 18,6) „Den Gefangenen die Entlassung, den Zerschlagenen die Freiheit!“ Vater unser im Himmel, vergib uns unsere Schuld und erlöse uns von dem Bösen!

Ulrich Manz

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