Gott will leben

Gott will leben

Gott will leben

„Gott ist tot. An seinem Mitleiden mit den Menschen ist Gott gestorben.“ Ich weiß nicht, was Friedrich Nietzsche dazu gebracht hat, Gott für tot zu erklären. Aber eines weiß ich: Gott ist nicht tot. Gott will leben! Alles um mich herum ist beseelt vom Willen zum Leben. Das hat Arthur Schopenhauer bereits eine Generation vor Nietzsche in das Zentrum seiner Philosophie gestellt.

Schopenhauer schreibt: „Man betrachte diesen universellen Lebensdrang, man sehe die unendliche Bereitwilligkeit, Leichtigkeit und Üppigkeit, mit welcher der Wille zum Leben sich ungestüm ins Dasein drängt. An solchen Erscheinungen also wird sichtbar, dass ich mit Recht als das nicht weiter Erklärliche, sondern jeder Erklärung zum Grunde zu Legende, den Willen zum Leben gesetzt habe, und dass dieser das Allerrealste ist, was wir kennen, ja, der Kern der Realität selbst.“ Im Vater unser beten wir: „Dein Wille geschehe.“ Für mich ist klar: Gottes Wille ist der Wille zum Leben. Gott will leben, und zwar in jedem noch so kleinen und unbedeutend erscheinenden Teil seiner Schöpfung. Diese Glaubensüberzeugung hat Jesus Christus im Johannes-Evangelium bekräftigt: “Denn das ist der Wille meines Vaters, dass jeder, der den Sohn sieht und an ihn glaubt, das ewige Leben hat und dass ich ihn auferwecke am Jüngsten Tag.” (Joh 6,40)

Das große Drama der Schöpfungsgeschichte besteht meines Erachtens darin, dass Gottes Wille zum Leben sich immer wieder gegen alles Böse und Lebensfeindliche durchsetzen muss. Warum das so ist, weiß kein Mensch. Aber dieser beständige Kampf ums Dasein wird selbst von der naturwissenschaftlichen Evolutionstheorie als das zentrale Motiv der Weltgeschichte angesehen. Das biblische Buch der Weisheit gibt dafür eine sehr einleuchtende Begründung, wenn es über den Schöpfer der Welt schreibt: „Du schonst alles, weil es dein Eigentum ist, Herr, du Freund des Lebens. In allem ist dein unvergänglicher Geist.“ Gott ist ein Freund des Lebens. Gott will leben. Gott lebt in seiner Schöpfung. Gott lebt in jedem seiner Menschenkinder, die er nach seinem Bild und Gleichnis erschaffen hat. Um das zu begreifen und je neu zu erlernen, müssen wir in die Schule des Jesus von Nazaret gehen, den das Christentum seit 2000 Jahren als den Sohn Gottes verehrt. Gott wollte leben seit dem ersten Augenblick der Geburt Jesu Christi. Gott wollte leben in seinem Leiden und seinem Kreuzestod. Gott wollte leben in seiner Auferstehung. Über den Tod hinaus steht der fleischgewordene Wille Gottes in Jesus Christus vor uns, vor dem der Apostel Paulus bekannt hat: „Tod, wo ist dein Sieg? Tod, wo ist dein Stachel? Gott aber sei Dank, der uns den Sieg geschenkt hat durch unseren Herrn Jesus Christus.“ Wenn es überhaupt einen Sinn hat, an etwas zu glauben, und wenn es eine begründete Hoffnung gibt, inmitten einer vom Chaos umdrohten Welt zu überleben, dann ist es genau diese feste und unerschütterliche Gewissheit: Gott will leben – in jedem von uns.

Albert Schweitzer, der berühmte Tropenarzt von Lambarene, Theologe und Philosoph, sieht in der Ehrfurcht vor dem Leben und dem Willen zum Leben in allen seinen Formen die Grundvoraussetzung eines menschenwürdigen Daseins. Er sagt: “Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will.” Wo aber der Wille zum Leben mit Gottes Willen und mit Gottes Heiligem Geist in Verbindung gebracht wird, der in allem wirkt und schafft, da wird der Wille zum Leben zu einem universal erfahrbaren Gottesbeweis und zum Ort der Begegnung mit Gott. Ich fühle mich ein in die göttliche Schöpferkraft, die alles im Dasein erhält, und vernehme sozusagen den Herzschlag Gottes, seinen Lebensatem. Ich werde zum Teil des göttlichen Willens und baue damit das Reich Gottes immer weiter auf, Gottes Reichtum, Gottes Geltungsbereich, der die Schöpfung durchdringt. Als Teil des göttlichen Organismus lasse ich mich so lange mit göttlichem Geist durchströmen, bis meine ganze Existenz zu einem immerwährenden Gebet wird: “Dein Reich komme, dein Wille geschehe.”

Jesus Christus hat die Überzeugung, dass Gott in seiner Schöpfung leben will, auf vielerlei Weise in Gleichnissen variiert. Ich denke da an das Gleichnis vom Weizenkorn, das in die Erde fällt und stirbt, dabei aber letztlich reiche Frucht bringt. Im Weizenkorn scheint fast mit Händen greifbar, welche göttliche Lebensenergie selbst in den winzigsten Organismen steckt, die sich aus einer sterblichen Hülle herausschälen, zum Licht drängen, wachsen und reifen – ein Wunder der Natur, ein Wunder des göttlichen Schöpfungsprozesses. Ähnliches gilt für das Gleichnis vom Senfkorn, dem kleinsten aller Samenkörner, das solange wächst, bis es zu einem großen Baum geworden ist. Und damit wollte Jesus Christus wohlgemerkt keine Naturbeobachtungen anbieten, sondern zum Ausdruck bringen: Das ist Reich Gottes. So funktioniert Reich Gottes mitten in dieser Welt. Reich Gottes ist mitten unter euch. Reich Gottes wirkt in euch. Gottes Wille, der in allem wirkt und schafft, baut sein Reich auf und lässt die Schöpfung erblühen.

Einmal sensibilisiert für diese Weltanschauung, vermögen wir immer mehr Bibelworte ausfindig zu machen, welche die Energiequelle des göttlichen Schöpferwillens umschreiben. Gott will leben: im verlorenen Schaf und im verlorenen Sohn, in der Liebe der Seligpreisungen zu den Armen und Geringen, im Herzen Jesus Christi und der Hingabe seines Leibes und Blutes, in der Liebe, die das Leben hingibt für die Freunde, durch opferbereiten Altruismus und sensible Empathie für den Schöpfungsleib, wie ein Weinstock, der in seinen Rebzweigen lebt. Mag das Fünkchen Lebensenergie auch noch so klein sein – für Gott gilt: „Das geknickte Rohr zerbricht er nicht und den glimmenden Docht löscht er nicht aus.“ (Jes 42,3) Von dieser Energiequelle der inneren Motivation, die man mit Henri Bergson auch den Élan vital nennen könnte, sagte der Dichter Jean Paul: „Unser Herz aber, oder unsere Seele, ist ein Funke aus dem Lebenslichtermeer Gottes.“

Es ist ein wunderbarer und innerlich aufbauender Gedanke, im Herzen und in der Seele des Menschen die ursprüngliche Energiequelle Gottes zu sehen, der sich wie ein riesiges Lebenslichtermeer verströmt. Dazu heißt es im Buch der Psalmen: „Denn bei dir ist die Quelle des Lebens; in deinem Licht schauen wir das Licht.“ (Ps 36,10) Und Jesus Christus ergänzt: „Wer aber von dem Wasser trinkt, das ich ihm geben werde, wird niemals mehr Durst haben; vielmehr wird das Wasser, das ich ihm gebe, in ihm zur sprudelnden Quelle werden, deren Wasser ewiges Leben schenkt.“ (Joh 4,14) Die Erkenntnis der göttlichen Weisheit und des göttlichen Willens auf dem Grunde unserer Seele ist also die ursprüngliche und unzerstörbare Quelle des Lebens, durch die der Mensch an Gott selbst Anteil hat. Eduard Mörike hat das einmal so ausgedrückt: „Das ist die große Stille, die über Stürmen siegt, dass eines Menschen Wille in Gottes Willen liegt.“ Im Einklang mit Gottes Willen veredelt sich der menschliche Wille, und er trägt bei zur Konzentrationsfähigkeit und zum Selbstbewusstsein der menschlichen Persönlichkeit.

Allerdings darf nicht unerwähnt bleiben, dass bei aller Faszination für das Phänomen des Willens und seiner persönlichkeitsprägenden Kraft die Schattenseiten eines fehlgeleiteten menschlichen Willens unübersehbar sind. Ich denke dabei an den Missbrauch mit dem Triumph des Willens im Nationalsozialismus, was ja nichts anderes war als ein Vernichtungsfeldzug gegen Andersdenkende, gegen fremde Völker und Religionen. Ich denke an den unseligen Angriffsschrei Deus vult! – Gott will es! im Zeitalter der Kreuzzüge und der Inquisition. Ich denke an Nietzsches verhängnisvollen Willen zur Macht. Ich denke an die Berge von scholastischen Disputationen über die Frage, ob der Mensch tatsächlich einen freien Willen habe oder ob er als Sklave der Sünde nur triebgesteuerte Willensentscheidungen treffen könne. Ich denke schließlich an Erich Fromms feinsinnige Unterscheidung zwischen Biophilie und Nekrophilie, also zwischen der Liebe zum Leben und der Liebe zum Tod, zur Verwesung und zur Destruktivität. Wo Gottes Wille zu suchen ist, das hat die Bibel klar und eindeutig geoffenbart: Gott ist ein Freund des Lebens. Aber der Mensch? Wie wird er sich entscheiden? Auf wessen Seite wird er sich schlagen? „Leben und Tod lege ich dir vor, Segen und Fluch. Wähle also das Leben, damit du lebst, du und deine Nachkommen. Liebe den Herrn, deinen Gott, hör auf seine Stimme und halte dich an ihm fest; denn er ist dein Leben.“ (Dtn 30, 19-20)

Als eine der größten Verwirrungen des menschlichen Willens sehe ich jenen Zerstörungstrieb an, der die überreiche Artenvielfalt und Großzügigkeit der göttlichen Schöpfungssymphonie industriell und fabrikmäßig zu einer Monokultur zusammenstutzen will – die Maschine Mensch also, die alles wie am Fließband zusammenpressen und in Konservendosen verpacken will. Der Hang zur Gleichmacherei widerspricht vom Grundsatz her der göttlichen Kreativität. Gott freut sich am Reichtum seiner Schöpfung, und der Mensch zerstört diesen Reichtum, um Macht zu gewinnen, um die Geheimnisse der Natur mit völlig sinnloser Monokultur im Keim zu ersticken. Gegen Gottes Liebe zum Detail setzt der Mensch den Drang zur Uniformität, weil dies leichter durchschaubar und handhabbarer erscheint. Bis in die Gesellschaftssysteme hinein erstreckt sich dieser Wille zur Macht und zur Unterwerfung, wie die uniformistische Gleichmacherei von Kommunismus und Sozialismus gezeigt hat. Besonders beeindruckend hat die Science-fiction-Serie Star Trek dieses Phänomen mit der fiktivien Zivilisation der Borg beschrieben. Die Borg bestehen aus menschenähnlichen Robotergestalten, die wie ferngesteuert und uniformiert als ein großes kollektives Bewusstsein existieren. Sie haben nur ein Ziel: die Assimilation von anderen wertvollen Wesen und Technologien in das Kollektiv, um höchstmögliche körperliche und technische Perfektion zu erreichen. Ähnlich einer Insektenkönigin steht die Borg-Königin an der Spitze des Kollektivs. Das wäre eine ziemlich ernüchternde Zukunftsvision. Da glaube ich doch lieber daran, dass Gott das blühende Leben will, in all seiner Vielfalt und all seinem Reichtum.

Gott will leben: in uns als den Propheten des göttlichen Willens zum Leben, in der Herausschälung des Weizenkorns aus allen seinen tödlichen Hüllen, in der Sehnsucht der Seele nach der Vereinigung mit dem göttlichen Willen seines geheiligten Namens, in der Seele als dem Echo und Widerschein des göttlichen Willens, als das große Ja zu Gott und zum ewigen Leben, als beständige und unbezwingbare Auferstehung. Indem ich mit dem göttlichen Willen auf Tuchfühlung gehe, gebe ich seinem Namen und der Gegenwart und Anwesenheit von Gottes Persönlichkeit die Ehre, und ich heilige und verherrliche dadurch Gottes Majestät. Es gibt nichts Heiligeres, Herrlicheres und Beständigeres als Gottes Willen zum Leben. Gottes Liebe zum Leben atmet in jeder schönen Form, in jedem Klang, in jeder Kleinigkeit der Natur. Die sterbliche Hülle des Chaos gebiert den Kosmos der göttlichen Harmonie.

Ulrich Manz 

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