Der Herr hat uns erlöst und befreit

Jesus sagt: Ich bin die Tür

Jesus sagt: Ich bin die Tür

Ein Strafgefangener erzählt: „Und dann kam der Tag, an dem ich zum ersten Mal ohne Begleitung das Zuchthaus verließ. Ich ging einfach nur bummeln. Mein Anzug war leicht und trocken, nicht schwer und immer feucht wie die Zuchthäuslerkluft. Und das Sonderbarste war: Ich wusste nicht richtig zu gehen. Ich wusste nicht, wohin ich gehen sollte. Die kleinen Entschlüsse des täglichen Lebens mussten erst wieder geweckt werden nach jahrelangem Schlaf. Ich trat in ein Geschäft, um nach Schreibpapier zu fragen. Als ich wieder hinausgehen wollte, blieb ich an der Tür stehen und wartete gewohnheitsmäßig darauf, dass ein Aufseher mir die Tür aufschloss. Aber ich war ja jetzt frei! Dann erst wurde mir klar, dass ein Mensch seine Türen selber öffnet. Dieser himmlische Genuss, eine Tür öffnen zu dürfen.“

In seiner berühmten Bildrede vom guten Hirten hat Jesus Christus sich selbst als Türhüter, ja sogar als Tür zum „Leben in Fülle“ geoffenbart. Er sagte zu seinen Jüngern: „Wer aber durch die Tür hineingeht, ist der Hirt der Schafe. Ihm öffnet der Türhüter und die Schafe hören auf seine Stimme; er ruft die Schafe, die ihm gehören, einzeln beim Namen und führt sie hinaus. Wenn er alle seine Schafe hinausgetrieben hat, geht er ihnen voraus, und die Schafe folgen ihm; denn sie kennen seine Stimme. Amen, amen, ich sage euch: Ich bin die Tür zu den Schafen. Alle, die vor mir kamen, sind Diebe und Räuber; aber die Schafe haben nicht auf sie gehört. Ich bin die Tür; wer durch mich hineingeht, wird gerettet werden; er wird ein- und ausgehen und Weide finden. Der Dieb kommt nur, um zu stehlen, zu schlachten und zu vernichten; ich bin gekommen, damit sie das Leben haben und es in Fülle haben.“ (Joh 10, 2-10)

Das Bild vom Öffnen einer Tür hat Papst Johannes Paul II. aufgegriffen. Er sagte 1978 bei seiner ersten Predigt auf dem Petersplatz in Rom: „Brüder und Schwestern! Habt keine Angst, Christus aufzunehmen und seine Herrschergewalt anzuerkennen! Habt keine Angst! Öffnet, ja reißt die Tore weit auf für Christus! Öffnet die Grenzen der Staaten, die wirtschaftlichen und politischen Systeme, die weiten Bereiche der Kultur, der Zivilisation und des Fortschritts seiner rettenden Macht! Habt keine Angst! Christus weiß, was im Innern des Menschen ist. Er allein weiß es!“ Durch sein mutiges Eintreten für die Freiheit des christlichen Glaubens trug der Papst zum Ende des Kommunismus in seinem Heimatland Polen und zur Auflösung der Sowjetunion bei.

Äußeres Zeichen der erlösenden und befreienden Kraft des Evangeliums ist seit Jahrhunderten die Porta Sancta oder Heilige Pforte, ein verschlossenes und zugemauertes Seitenportal an der Ostseite des Petersdoms in Rom, das nur zu Heiligen Jahren geöffnet ist. Die feierliche Öffnung und Schließung durch den Papst markieren Beginn und Abschluss eines Jubeljahres. In einem Brief aus dem Jahre 1400 heißt es: „Wer dreimal durch diese Pforte schreitet, dem werden die Schuld und Sündenstrafen nachgelassen. Es ist ein Wunder, das die Menschen erleben.“ Die früheste Erwähnung einer Heiligen Pforte findet sich in einer Niederschrift des spanischen Pilgers Pero Tarfur aus dem Jahre 1437, der auf einen bereits existierenden Brauch verweist. Papst Alexander VI. führte zu Weihnachten 1499 die Sitte ein, dass das Heilige Jahr mit drei Hammerschlägen gegen die Heilige Pforte zu eröffnen sei.

Regina Pabst, eine evangelische Klinikseelsorgerin aus Gießen, erzählt: „Kennen Sie das? Sie sind im Urlaub und möchten eine Kirche besichtigen. Beim Suchen des Hauptportals fassen Sie schon einmal an Türklinken der Seiteneingänge. Wir hatten Glück: Eine Seitentür des Münsters in Schwäbisch Gmünd ließ sich öffnen. Wir konnten sogleich dieses Gotteshaus anschauen. Außer uns kamen und gingen nur einzelne Leute. Nach einer Zeit der persönlichen Stille wollten auch wir weitergehen. Ich schritt auf den Seiteneingang zu, durch den wir hereingekommen waren. Doch die Tür ließ sich nicht öffnen! Es war keine Türklinke zu sehen. Es gab auch keinen Griff, an dem man hätte drücken oder ziehen können. Was tun? Da sah ich einen älteren Herrn auf uns zukommen. Ich dachte: Der gehört irgendwie zur Kirche. Ihn sprach ich an und fragte, ob wir durch diese Tür auch nach draußen gelangen könnten? Er bestätigte es. Aber er fügte hinzu: Se wisset net wie’s goht! Dann drückte er einen Riegel, den ich gar nicht gesehen hatte, nach oben. Die Tür öffnete sich. Ich brauchte mich nur noch zu bedanken.“

Eigentlich ist die gesamte Geschichte der Menschheit und insbesondere die Geschichte des Volkes Gottes eine Türöffner-Geschichte. Schon immer geht es darum, Grenzen zu überwinden, über den eigenen Schatten zu springen, über sich selbst hinauszuwachsen und nach neuen Ufern zu streben. Im geistigen Sinne würde Immanuel Kant diesen Prozess als „Aufklärung“ verstehen, oder, wie seine berühmte Definition besagt, als „Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit.“ Im biblischen Sinne ist der Glaube schon immer eine Exodus-Erfahrung, ein Auszug aus den Ängsten und Zwängen der Sklaverei, die zum großen Erfahrungsschatz des Volkes Israel gehört. Die Bibel erzählt, wie Gott am Berg Horeb aus einem brennenden Dornbusch zu Mose gesprochen hat. Er sagte: Jetzt ist die laute Klage der Israeliten zu mir gedrungen und ich habe auch gesehen, wie die Ägypter sie unterdrücken. Und jetzt geh! Ich sende dich zum Pharao. Führe mein Volk, die Israeliten, aus Ägypten heraus!“ (Ex 3, 9-10) Seither ist die Geschichte des Volkes Gottes eine Freiheitsgeschichte, sein Weg ist wie der Durchzug durchs Rote Meer, seine Sehnsucht ist das Ende jeder Sklaverei und der Beginn der Freiheit.

In der Tat ist Jesus Christus gekommen, um Türen zu öffnen, neue Welten zu erschließen und gerade auf dem Gebiet der Religion und des Gottesglaubens mehr Freiheit zu wagen. Er durchschaute die lähmende Wirkung des Gesetzeskultes und des Tempelkultes seiner Zeit mit ihrer unüberschaubaren Menge an Regeln, Geboten und Verboten. Ein jüdischer Rabbi hat einmal über das Gesetzeswerk des Mose gesagt: „613 Gebote und Verbote enthält die Tora, 365 Verbote, wie die Tage des Jahres, und 248 Gebote, entsprechend den Gliedern des Körpers.“ Dann kam Jesus in die Synagoge seiner Heimatstadt Nazaret und stimmte mit prophetischer Leidenschaft sein ganz persönliches Lied der Freiheit an: „Der Geist des Herrn ruht auf mir; denn der Herr hat mich gesalbt. Er hat mich gesandt, damit ich den Armen eine gute Nachricht bringe; damit ich den Gefangenen die Entlassung verkünde und den Blinden das Augenlicht; damit ich die Zerschlagenen in Freiheit setze und ein Gnadenjahr des Herrn ausrufe.“ (Lk 4, 18-19) Gegen die Übermacht des Gesetzeskults setzte Jesus die befreiende und erlösende Kraft der Liebe: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit all deinen Gedanken. Das ist das wichtigste und erste Gebot. Ebenso wichtig ist das zweite: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. An diesen beiden Geboten hängt das ganze Gesetz samt den Propheten.“ (Mt 22, 37-40)

In der Nachfolge Christi muss jede Theologie eine Theologie der Befreiung sein, jeder Gottesdienst ein Türöffnerdienst, jedes Gotteslob ein Schlüsselerlebnis auf dem Weg zu mehr geistiger Freiheit, zur Erlösung und geistigen Erneuerung. Es kann nichts Schöneres geben, als inmitten der altehrwürdigen Kirchenmauern zu singen: „Ihr Tore, hebt euch nach oben, hebt euch, ihr uralten Pforten; denn es kommt der König der Herrlichkeit. Wer ist der König der Herrlichkeit? Der Herr der Heerscharen, er ist der König der Herrlichkeit.“ (Psalm 24, 9-10) Dazu gehört stets aufs Neue die Leidenschaft, Grenzen zu überwinden, gerade dort, wo Ungerechtigkeit und Unterdrückung der Sehnsucht nach mehr Freiheit diametral entgegenstehen. Die Theologie der Befreiung in Lateinamerika mit ihrer „Option für die Armen“ hat sich von Anfang an auf den Lobgesang Marias im Lukas-Evangelium berufen, wo es von Gott heißt: „Er stürzt die Mächtigen vom Thron und erhöht die Niedrigen. Die Hungernden beschenkt er mit seinen Gaben und lässt die Reichen leer ausgehen.“ (Lk 1, 52-53) Jesus selbst sagte zu seinen Jüngern: „Ihr wisst, dass die Herrscher ihre Völker unterdrücken und die Mächtigen ihre Macht über die Menschen missbrauchen. Bei euch soll es nicht so sein, sondern wer bei euch groß sein will, der soll euer Diener sein, und wer bei euch der Erste sein will, soll euer Sklave sein.“ (Mt 20, 25-27) „Ich nenne euch nicht mehr Knechte; denn der Knecht weiß nicht, was sein Herr tut. Vielmehr habe ich euch Freunde genannt; denn ich habe euch alles mitgeteilt, was ich von meinem Vater gehört habe.“ (Joh 15, 15) Der Apostel Paulus hat daraus seine Schlüsse gezogen und gesagt: „Auch die Schöpfung soll von der Sklaverei und Verlorenheit befreit werden zur Freiheit und Herrlichkeit der Kinder Gottes.“ (Röm 8, 21) „Der Herr aber ist der Geist, und wo der Geist des Herrn wirkt, da ist Freiheit.“ (2 Kor 3, 17)

Im Namen Jesu Christi möchten wir täglich aufs Neue Türen öffnen, Grenzen überwinden, im Sinne des Propheten Hosea „Neuland unter den Pflug nehmen“ (Hos 10, 12) und an einer besseren, weil freieren Welt von morgen mitarbeiten. „Mit dir erstürme ich Wälle, mit meinem Gott überspringe ich Mauern.“ (Ps 18, 30) Davon handelt auch ein zeitgenössisches geistliches Lied: „Kommt und singt ein Lied der Freude, ihr habt Grund zur Dankbarkeit. Gottes Weg führt in die Weite aus der Hoffnungslosigkeit. Ohne Gott heilt ihr vergebens, was auch Leib und Seele kränkt. Kommt mit uns zum Quell des Lebens, der für immer Heilung schenkt. Freunde, ihr seid eingeladen, alle ohne Unterschied, weil der Herrgott nicht auf Staaten, nicht auf Rang und Rasse sieht. Darum legt die Zäune nieder, keiner soll der Größte sein. Daran lasst uns denken, Brüder: Groß ist nur der Herr allein.“

Ulrich Manz

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