Der amerikanische Bestsellerautor Emerson Eggerichs veröffentlichte im Jahr 2021 ein Buch mit dem Titel „Gottes Wille für dein Leben.“ So ein Buch nehme ich immer besonders gern zur Hand, weil ich mir denke: Typisch Amerikaner. Die wissen ja wieder mal alles ganz genau. Da bin ich aber mal gespannt, was Gottes Wille für mein Leben sein soll. In seinem Vorwort schreibt Eggerichs: „Wenn es einen Gott gibt, der uns liebt und der Gutes mit uns im Sinn hat, dann wird es doch zu einem der wichtigsten Dinge im Leben, dass wir seinen Willen für uns entdecken. Jeder von uns sollte sich also fragen: Was ist Gottes Absicht für mein ganz persönliches Leben?“
An dieser Stelle habe ich die Lektüre abgebrochen und das Buch wieder zugeklappt. Dann begann ich, selbst nachzudenken. Denn im Römerbrief des Apostels Paulus heißt es: „Erneuert euer Denken, damit ihr prüfen und erkennen könnt, was der Wille Gottes ist.“ (Röm 12,2) Und Jesus hat einmal gesagt: „Ich bin nicht vom Himmel herabgekommen, um meinen Willen zu tun, sondern den Willen dessen, der mich gesandt hat.“ (Joh 6,38) Was aber ist Gottes Wille? Wer kann schon von sich behaupten, dass er ganz genau wüsste, was Gottes Wille ist?
Im Mittelalter haben nicht wenige Päpste ihre Macht missbraucht, um die Gläubigen aufzuhetzen und in zahlreiche Kreuzzüge gegen Andersgläubige zu schicken, immer nach dem Motto: „Deus vult! Gott will es!“ Gottes Wille? Hunderttausende von Toten allein im 12. Jahrhundert im Heiligen Land? Überhaupt die großen Themen Krieg, Krankheit, Tod und Naturkatastrophen: Ist das alles Gottes Wille? Nein, sicher nicht. Denn beispielsweise steht im Buch der Weisheit über Gott: „Du liebst alles, was ist, und verabscheust nichts von allem, was du gemacht hast. Denn hättest du etwas gehasst, so hättest du es nicht geschaffen. Herr, du Freund des Lebens. In allem ist dein unvergänglicher Geist.“ (Weish 11,24 – 12,1) Auf einmal wird mir klar, dass mitten in dieser Welt mit all ihrem Chaos und all ihrer zerstörerischen Wucht eine Kraft am Werk ist, die sich unendlich mühsam herausschält wie die Frucht aus dem Samenkorn. Gottes Wille ist der Wille zum Leben, der in allem steckt und der letztlich alles überwindet. Genauso sieht es auch der Prophet Ezechiel, der sagt: „So wahr ich lebe, Spruch des Herrn, ich habe kein Gefallen am Tod des Schuldigen, sondern daran, dass er sich bekehrt und am Leben bleibt.“ (Ez 33,11) Albert Schweitzer, der berühmte Tropenarzt von Lambarene, sah das Geheimnis der Schöpfung aus zwei Quellen genährt: Ehrfurcht vor dem Leben und Wille zum Leben. Er sagte von sich: „Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will.“
Jetzt wird hoffentlich etwas klarer, wonach wir fragen müssen, wenn es um Gottes Willen geht. Wo Tod und Zerstörung am Werk sind, da ist Gottes Wille weit, weit weg. Wo sich aus den Trümmern neues Leben ans Licht zurückkämpft, da ist Gottes Wille spürbar. Das Schönste aber ist: Wir können alle miteinander Teil dieses göttlichen Willens werden, sozusagen der verlängerte Arm Gottes. Jeder und jede von uns hat es in der Hand, den ganz persönlichen Willen zum Leben zu stärken und mehr Ehrfurcht vor dem Leben zu entwickeln. Im Vater unser vergewissern wir uns dessen und bestärken uns gegenseitig in der sehnlichen Bitte: „Dein Wille geschehe, wie im Himmel so auf Erden.“ Dein Wille geschehe, in jedem unserer Gedanken, Worte und Werke! Dein Wille geschehe, der alles niederringt, was lebensfeindlich und zerstörerisch ist. Mit Psalm 40 bekennen wir: „Deinen Willen zu tun, mein Gott, macht mir Freude. Deine Weisung trage ich im Herzen.“ (Ps 40,9)
Ulrich Manz