Lebendiges Gottesbewusstsein

Lautenspieler mit Wechselkopf - Japan um 1930

Lautenspieler mit Wechselkopf – Japan um 1930

Netsuke sind kleine geschnitzte Figuren aus Japan. Als Kind bewunderte ich in der Vitrine unserer Nachbarsfamilie eine Sammlung dieser Kunstwerke. Eine dieser Figuren aus Elfenbein ist mir besonders nachdrücklich in Erinnerung geblieben. Es war eine so genannte Wechselkopffigur. In die Kopfpartie war eine drehbare Kugel so eingearbeitet, dass die vordere Kugelhälfte ein freundlich lachendes Gesicht zeigte. Wenn man die Kugel mit dem Finger weiterdrehte, erschien wie von Zauberhand die Rückseite der Kugel mit einer dämonischen Fratze. Die Wechselkopffigur erscheint mir wie eine spiegelbildliche Darstellung des modernen Menschen, hin- und hergerissen zwischen übersteigertem Selbstwertgefühl auf der einen und fortschreitender Selbstentfremdung auf der anderen Seite.

Das lachende Gesicht steht für den satten und selbstgefälligen, gönnerhaften und herablassenden Standesdünkel des modernen Wohlstandsbürgers, der nichts anderes kennt und auch nichts anderes schätzt als seine eigene kleine Welt. Die dämonische Fratze symbolisiert das aggressive und bösartige Verhalten seinen Mitmenschen gegenüber, sinnlose Zerstörungswut, Ausdruck der ganzen Sinnlosigkeit, die einer über sein eigenes Dasein empfindet, weil er eben vollständig sich selbst entfremdet, ausgebrannt, leer und hohl geworden ist. Der Mensch zwischen Selbstüberschätzung und Selbstentfremdung – wie soll er aus dieser Zwickmühle herauskommen?

Ich meine, rein menschlich gesehen hilft hier zunächst einmal die Rede vom natürlichen Selbstbewusstsein weiter, ein goldener Mittelweg also, der die Demut kennt, ohne sich selbst zu demütigen, ohne sich demütigen zu lassen oder andere zu demütigen, aber auch ein Weg, der ausdauernd, kraftvoll, begeistert und voller Überzeugung gegangen wird, ohne in Selbstüberschätzung oder Größenwahn zu verfallen. Gerade der modernen Pädagogik, welche die Bildung und Erziehung in den letzten Jahren geprägt hat, liegt es sehr am Herzen, jungen Leuten Mut zu machen, sie für das Leben fit zu machen, damit sie sich in der Klassengemeinschaft wie auch in Missbrauchssituationen behaupten können. Aber gesamtgesellschaftlich scheint mir das pädagogische Bemühen um ein gesundes, natürliches Selbstbewusstsein bei gleichzeitig gepflegter Herzensbildung, Mitmenschlichkeit oder Hilfsbereitschaft weitgehend gescheitert zu sein. Die gegenwärtige Generation ist in das Fahrwasser gnadenloser Selbstdarstellung geraten.  Für sie ist das ganze Leben ein einziges “Deutschland sucht den Superstar.” Nur wer sich möglichst laut und schrill in Szene setzt, seine Schwächen versteckt und zugleich Stärken ins Rampenlicht stellt, die er gar nicht hat, scheint erfolgreich zu sein. Auch auf dem Gebiet der Religionen und Weltanschauungen macht sich eine extrem emanzipatorische Geisteshaltung breit. Da gibt es keinen Dialog mit Gott mehr, kein Gebet, keine Stille, keine Meditation, sondern nur noch den Monolog des um sich selbst kreisenden Menschen. Eine archaische Religiosität sagte: Gott ist alles, und der einzelne Mensch ist nichts. Die postmoderne Hybris dagegen sagt: Der Mensch ist alles, und Gott ist nichts.

Wie erfrischend anders klingt dagegen doch das Angebot der frohen Botschaft Jesu Christi! Für Christus waren Selbstbewusstsein und Gottesbewusstsein keine Gegensätze. Im Gegenteil: Sein Selbstbewusstsein als Sohn Gottes erwuchs ja gerade aus seinem lebendigen Gottesbewusstsein, also seiner innigen Liebe zu Gott, den er als seinen Vater betrachtete. Für Christus hatte Gott nichts Fremdes oder gar Bedrohliches mehr an sich. Vielmehr war Gott Teil seiner eigenen Wesensart, ein Gott, der sozusagen in seinem eigenen Erbgut verankert war. Damit nicht genug: Sein Vorbild ist zum Schlüssel für das Verständnis eines allgemeinen Gottesbewusstseins geworden, in dem sich alle in der Nachfolge Christi als Söhne und Töchter Gottes begreifen können, als Tempel Gottes und Wohnraum des Heiligen Geistes. (vgl. 1 Kor 3, 16) Was ich am Selbstbewusstsein Jesu Christi so bewundere, ist einerseits der hohe geistige Anspruch, der von seiner Botschaft ausgeht, ein Anspruch, bei dem hingeschaut und nachgedacht, aber nicht vorschnell geurteilt wird. Andererseits erscheint Jesus Christus nie selbstverliebt oder überheblich auf Kosten anderer, sondern vielmehr ungemein stark, wenn es darum geht, Opfer zu bringen, sein Leben einzusetzen, ganz für andere da zu sein, mit einer großen Portion Altruismus und Empathie, mit Selbstlosigkeit und Einfühlungsvermögen ausgestattet. Jesus Christus steht fest in Gott, und er ist stark in Gott. Sein Gottesbewusstsein ist der Dreh- und Angelpunkt seines Selbstbewusstseins, weder überheblich noch sich selbst demütigend, weder autoritär noch antriebslos, weder auf einem ständigen Selbstfindungstripp, noch mit sich selbst geißelnder Selbstentfremdung. Jesus Christus war ganz bei sich und zugleich ganz bei Gott, einerseits authentisch und konzentriert, andererseits aber den geistigen Horizont auf Gott hin ausgeweitet. Sein Leben war ein beständiger Pulsschlag von Gott her und auf Gott hin, ein beständiges Einatmen und Ausatmen des Heiligen Geistes, ein Leben „am Herzen des Vaters.“ (vgl. Joh 1, 18) Mit den Worten Laotses hatte er “das Herz im Himmel und den Himmel im Herzen.”

Wo Gottes lebensspendender Heiliger Geist wirkt, da verwandelt sich das menschliche Selbstbewusstsein, das immer in Gefahr ist, sich egozentrisch abzukapseln, in ein natürliches, gesundes und schöpferisches Gottesbewusstsein, das im Dialog mit Gott genauso aufblüht und liebevoll erfüllend wirkt, wie auch das Wir-Gefühl aus der Begegnung von Ich und Du herauswächst. Gottesbewusstsein ist das, was Christus uns gelehrt hat und was er selbst durch und durch gewesen ist: eine einzigartig gelungene Synthese von Göttlichem und Menschlichem, ein Mensch „von Gottes Art.“ (vgl. Apg 17, 28-29) Anders ausgedrückt: Die Evolution der Menschheit hat zum ersten Mal in ihrer Geschichte eine neue Spezies hervorgebracht, eine neue Art, Mensch zu sein. Diese Art mag bisher womöglich nur vereinzelt aufgetreten sein. Aber sie ist aufgetreten, und hoffentlich stirbt sie nicht aus! Diese neue Art könnte man sogar mit einem lateinischen Namen belegen, und zwar mit „radix Jesse.“ Denn im Buch des Propheten Jesaja heißt es über sie: „Aus dem Baumstumpf Isais wächst ein Reis hervor, ein junger Trieb aus seinen Wurzeln bringt Frucht.“ (Jes 11,1) Diese neue Art, Mensch zu sein, erfüllt sich in ihrer geistigen Berufung und in einem lebendigen Gottesbewusstsein – ein neuer Mensch also, der „nach dem Bild seines Schöpfers erneuert wird, um ihn zu erkennen.“ (Kol 3,10) Um dieses lebendige Gottesbewusstsein beten wir mit den Worten der kirchlichen Liturgie: „Komm, Heiliger Geist, erfülle die Herzen deiner Gläubigen, und entzünde in ihnen das Feuer deiner Liebe. Sende aus deinen Geist, und alles wird neu geschaffen, und du wirst das Antlitz der Erde erneuern.“

 Ulrich Manz

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