Eines der schönsten, aber auch rätselhaftesten Bibelzitate, die mir immer wieder in den Sinn kommen, stammt aus der Rede des Apostels Paulus auf dem Areopag in Athen. Paulus sagt über die Beziehung Gottes zu uns Menschen: In ihm leben wir, bewegen wir uns und sind wir. Die Apostelgeschichte berichtet uns, dass Paulus mit einigen griechischen Philosophen über das Evangelium von Jesus und von der Auferstehung diskutiert hat.
„Da stellte sich Paulus in die Mitte des Areopags und sagte: Athener, nach allem, was ich sehe, seid ihr besonders fromme Menschen. Denn als ich umherging und mir eure Heiligtümer ansah, fand ich auch einen Altar mit der Aufschrift: EINEM UNBEKANNTEN GOTT. Was ihr verehrt, ohne es zu kennen, das verkünde ich euch. Gott, der die Welt erschaffen hat und alles in ihr, er, der Herr über Himmel und Erde, wohnt nicht in Tempeln, die von Menschenhand gemacht sind. Er lässt sich auch nicht von Menschen bedienen, als brauche er etwas: er, der allen das Leben, den Atem und alles gibt. Er hat aus einem einzigen Menschen das ganze Menschengeschlecht erschaffen, damit es die ganze Erde bewohne. Er hat für sie bestimmte Zeiten und die Grenzen ihrer Wohnsitze festgesetzt. Sie sollten Gott suchen, ob sie ihn ertasten und finden könnten; denn keinem von uns ist er fern. Denn in ihm leben wir, bewegen wir uns und sind wir, wie auch einige von euren Dichtern gesagt haben: Wir sind von seiner Art.“ (Apg 17, 22-28)
Meiner Meinung nach prallen hier zwei Gegensätze aufeinander, die das Nachdenken über Gott seit jeher beschäftigen. Einerseits war Gott für sehr lange Zeit in der Tat der unbekannte Gott. Andererseits hat sich Gott Schritt für Schritt uns Menschen zugewandt und uns sein Wesen geoffenbart. Im brennenden Dornbusch sprach er zu Mose: „Ich bin der Ich-bin-da.“ (Ex 3, 14) Durch den Mund des Propheten Jesaja kündigte er sich an als der „Immanuel“, der „Gott mit uns.“ (Jes 7, 14) Durch die Geburt Jesu Christi offenbarte sich Gott schließlich durch seinen „göttlichen Glanz auf dem Antlitz Christi. “ (2 Kor 4, 6) Jesus Christus offenbarte sich als Sohn Gottes, den er als seinen Vater im Himmel ansah, und sagte: „Wer mich gesehen hat, der hat den Vater gesehen.“ (Joh 14, 9) Das war so eindeutig, so anschaulich und überzeugend, dass der Evangelist Johannes im Rückblick auf das Leben und Wirken Jesu Christi sagen konnte: „Was von Anfang an war, was wir gehört, was wir mit unseren Augen gesehen, was wir geschaut und was unsere Hände angefasst haben vom Wort des Lebens – das Leben ist erschienen und wir haben gesehen und bezeugen und verkünden euch das ewige Leben, das beim Vater war und uns erschienen ist.“ (1 Joh 1, 1-2)
Und damit nicht genug. Die frohe Botschaft Jesu Christi besagte, dass alle Menschen Kinder Gottes sind, Söhne und Töchter des Höchsten. (vgl. Ps 82, 6; Joh 10, 34; Mt 5, 9) Diese Offenbarung hat wiederum der Apostel Paulus getreu bewahrt und weitergetragen, beispielsweise in seinem Brief an die Römer: „Denn die sich vom Geist Gottes leiten lassen, sind Kinder Gottes. Denn ihr habt nicht einen Geist der Knechtschaft empfangen, sodass ihr immer noch Furcht haben müsstet, sondern ihr habt den Geist der Kindschaft empfangen, in dem wir rufen: Abba, Vater! Der Geist selber bezeugt unserem Geist, dass wir Kinder Gottes sind. Sind wir aber Kinder, dann auch Erben; Erben Gottes und Miterben Christi, wenn wir mit ihm leiden, um mit ihm auch verherrlicht zu werden.“ (Röm 8, 14-17)
Genau an dieser Stelle schließt sich der gedankliche Kreis zur Areopag-Rede. Denn wenn wir Menschen Kinder Gottes sind, „von Gottes Art“, wie Paulus sagt, dann kann uns „weder Höhe oder Tiefe noch irgendeine andere Kreatur scheiden von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserem Herrn.“ (Röm 8, 39) Mit anderen Worten: „In ihm leben wir, bewegen wir uns und sind wir.“ (Apg 17, 28) Und diese fundamentale Glaubenserkenntnis ist fest gegründet auf der Menschwerdung des Sohnes Gottes, auf der Geburt Jesu Christi in Raum und Zeit.
Fortan ist die einzige Herausforderung jeder christlichen Existenz, dieses Leben in Gott, wie Christus es uns vorgelebt hat, in gleicher Weise nachzuvollziehen. Es geht in allem um ein lebendiges Gottesbewusstsein, um das Einswerden mit Gott, um ein Leben in Gottes Gegenwart. Ich will in Gott hineinwachsen, Gottes Nähe suchen, mit Gott ein Herz und eine Seele werden, wie Christus in der Einheit des Heiligen Geistes mit Gott verbunden sein, denken wie Gott, lieben wie Gott, im Leben stehen wie Gott, zum Sprachrohr Gottes werden und mich mit weit ausgebreiteten Armen nach dem Vater im Himmel ausstrecken. „Gott, du mein Gott, dich suche ich, meine Seele dürstet nach dir. Nach dir schmachtet mein Leib wie dürres, lechzendes Land ohne Wasser. Darum halte ich Ausschau nach dir im Heiligtum, um deine Macht und Herrlichkeit zu sehen. Denn deine Huld ist besser als das Leben; darum preisen dich meine Lippen. Ich will dich rühmen mein Leben lang, in deinem Namen die Hände erheben. Wie an Fett und Mark wird satt meine Seele, mit jubelnden Lippen soll mein Mund dich preisen. Ich denke an dich auf nächtlichem Lager und sinne über dich nach, wenn ich wache. Ja, du wurdest meine Hilfe; jubeln kann ich im Schatten deiner Flügel. Meine Seele hängt an dir, deine rechte Hand hält mich fest.“ (Ps 63, 2-9)
Ulrich Manz