Die Herrlichkeit des Herrn

Kraft und Herrlichkeit

Kraft und Herrlichkeit

Seit meiner Schulzeit liebe ich den Kanon Die Herrlichkeit des Herrn. Keith Chrysler hat ihn 1978 vertont. Der Text stammt aus Psalm 104: „Die Herrlichkeit des Herrn bleibe ewiglich, der Herr freue sich seiner Werke. Ich will singen dem Herrn mein Leben lang. ich will loben meinen Gott, solange ich bin!“ Beim Stichwort Herrlichkeit ergeht es mir wie wohl den meisten anderen Gläubigen: Man hört das Wort in unzähligen Bibellesungen, Liedern und Gebeten, aber man macht sich nur höchst selten darüber Gedanken, was es eigentlich bedeutet. Offensichtlich ist Herrlichkeit das, was auf ewig bleibt und worauf die ganze Schöpfung als ihre innere Vollkommenheit zustrebt. Machen wir uns also auf die Suche.

Herrlichkeit kommt im Gottesdienst regelmäßig vor. Im Sanctus der katholischen Messe heißt es in Anlehnung an den Propheten Jesaja: „Erfüllt sind Himmel und Erde von deiner Herrlichkeit.“ Das Vater unser endet mit diesem Lobpreis: „Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit. Amen.“ Ursprünglich war die Erscheinung der Herrlichkeit des Herrn ein wesentlicher Bestandteil der Geschichte des Volkes Israel mit seinem Gott. Gottes Herrlichkeit erschien bei der Rettung der Israeliten aus der ägyptischen Sklaverei. Sie erschien vor Mose und dem ganzen Volk, auf dem Berg Sinai, im Offenbarungszelt und über dem Tempel. Im Buch der Psalmen heißt es: „Die Himmel erzählen die Herrlichkeit Gottes und das Firmament kündet das Werk seiner Hände.“ (Ps 19,2) Und wiederum ist der Tempel, das Haus Gottes, der vorzügliche Ort von Gottes Herrlichkeit: „Darum halte ich Ausschau nach dir im Heiligtum, zu sehen deine Macht und Herrlichkeit. Denn deine Huld ist besser als das Leben. Meine Lippen werden dich rühmen.“ (Ps 63, 3-4)

Im Johannes-Evangelium spielt die Herrlichkeit Christi, die er von Gott, seinem Vater empfangen hat, eine zentrale Rolle: „Und das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt und wir haben seine Herrlichkeit geschaut, die Herrlichkeit des einzigen Sohnes vom Vater, voll Gnade und Wahrheit.“ (Joh 1,14) Die Apostelgeschichte erzählt von der Steinigung des Stephanus: „Er aber, erfüllt vom Heiligen Geist, blickte zum Himmel empor, sah die Herrlichkeit Gottes und Jesus zur Rechten Gottes stehen und rief: Siehe, ich sehe den Himmel offen und den Menschensohn zur Rechten Gottes stehen.“ (Apg 7, 55-56)

Was also ist das – Herrlichkeit? Offensichtlich hat das Volk Gottes, einschließlich der großen Gestalten der biblischen Heilsgeschichte, eine ganz bestimmte Eigenschaft Gottes wahrzunehmen vermocht, die sie davon überzeugt hat, dass Gott da ist, dass er hier und jetzt ganz klar und eindeutig gegenwärtig ist. So nennt Gott selbst ja auch seinen Namen: „Ich bin Jahwe, ich bin der Ich-bin-da.“ (Ex 3, 14) Wo Gott sich selbst und höchstpersönlich offenbart, da empfindet der Mensch sich beschenkt, verklärt, glücklich, erfüllt, großartig, ja: herrlich. Von Jesus Christus heißt es sogar, dass er in Gottes Gegenwart vom Himmel her geradezu verklärt und verwandelt worden ist: „Sein Gesicht leuchtete wie die Sonne und seine Kleider wurden blendend weiß wie das Licht. Eine leuchtende Wolke warf ihren Schatten auf sie und aus der Wolke rief eine Stimme: Das ist mein geliebter Sohn, an dem ich Gefallen gefunden habe; auf ihn sollt ihr hören.“ (Mt 17, 1-5)

Herrlichkeit ist das charakteristische Wesensmerkmal Gottes, das ihn vor allem anderen auszeichnet und erkennbar macht. Wollte man die Herrlichkeit Gottes wie eine emergente, höherwertige Zusammenfassung verschiedener Eigenschaften auffassen, so könnte man solche Eigenschaften wie konzentrische Kreise um die Mitte dieser Herrlichkeit herumgruppieren. Da sind Majestät und Erhabenheit, Glanz und Schönheit, Heiligkeit und Harmonie, Pracht und Zauber, Faszination, Anmut und Eleganz, die Aura des unantastbar und unüberbietbar Vollkommenen, unendlicher und wunderbarer Reichtum, eine Großartigkeit, die einen staunend, erschüttert und anbetend in die Knie gehen lässt. Und wenn sich alle diese Eigenschaften zu dem Gefühl verdichten, dass in ihnen und durch sie das göttliche Wesen höchstpersönlich, voller Gnade, Liebe und Barmherzigkeit, mit seiner ganzen Weisheit und seiner Willenskraft gegenwärtig ist, dann sprechen wir von diesem besonderen und außergewöhnlichen Etwas, nämlich von Gottes Herrlichkeit.

Als spirituellen Impuls, der unsere Wahrnehmung der göttlichen Herrlichkeit vertiefen kann, findet sich im 10. Kapitel der Bhagavad Gita, einer der wichtigsten heiligen Schriften des Hinduismus, die folgende Anleitung zur Meditation: „Am leichtesten ist es, Gott zu sehen, wenn du dir immer wieder die Großartigkeit, die Herrlichkeit, die Schönheit bewusst machst. Wenn du einen Sonnenaufgang siehst, sieh nicht einfach nur irgendwie hin und denke weiter über deinen Tag nach, sondern einen Moment halte inne, sieh den Sonnenaufgang, spüre ihn von Herzen mit all deinem Sein. Und dann, wenn du diese Herrlichkeit empfindest, blitzt ein Göttliches auf. Wenn du einen großen Baum siehst, darfst du nicht einfach vorbeigehen, sondern du musst einen Moment lang innehalten, einen Moment lang spüren, sehen, riechen, hören, fühlen. Vielleicht sogar, wenn du die Luft schmeckst vor einem Baum, die hat etwas Besonderes. Erfahre diese Großartigkeit, diese Herrlichkeit und dort ist Gott erfahrbar. Durch ein bewusstes Empfinden von Herrlichkeit nimmst du das Göttliche wahr.“

Letztlich lehrt Jesus Christus eine ähnliche Geisteshaltung gegenüber den Wundern der Schöpfung: „Seht euch die Vögel des Himmels an; lernt von den Lilien auf dem Feld.“ (Mt 6, 26-29) Wer über das Wunder des Lebens nachdenkt, steht der antiken Philosophie ganz nahe, die das Sein als solches aus allem Werden und Vergehen herausgehoben hat. Das Sein zu empfinden und zu bewundern ist sozusagen die Vorstufe oder der Vorhof zum Heiligtum. Das Heiligtum selbst ist die Erfahrung der Herrlichkeit des Herrn. Das beständige Verweilen im Licht seiner Herrlichkeit jedoch ist nichts anderes als das, was wir Gnade nennen: Gott zeigt mir seine Herrlichkeit und er lädt mich liebevoll und wohlwollend dazu ein, an seiner göttlichen Daseinsweise teilzuhaben. Dies ist der Vorrang des Seins vor dem Haben und Machen, der Vorrang der Kontemplation vor der Aktion, der Vorrang der Mystik und Kontemplation vor der Wichtigtuerei und der Geschäftigkeit des Alltags. Satten, selbstgefälligen und geltungssüchtigen Zeitgenossen wird das zuwider sein. “Wer aber dem Herrn vertraut, den wird seine Gnade umfangen.” (Ps 32, 10)

Was lernen wir daraus? Die Herrlichkeit des Herrn lässt keinen unberührt, der sich auf sie einlässt. Ich lerne aus der souveränen Haltung des Schöpfers inmitten seiner Schöpfung zwei Dinge: Daseinsbeherrschung und Selbstbeherrschung. Letztlich geht es darum, ganz und gar Gottes Willen zu entsprechen und souverän im Leben zu stehen. Wie Gott voll Wohlgefallen auf seine Schöpfung blickt und sich seiner Werke erfreut, so kann auch ich im Licht der göttlichen Herrlichkeit selbstbewusst, selbstbestimmt und voller Mitgefühl im Leben stehen. Es bedarf nur meines beständigen Bemühens, das Licht der göttlichen Herrlichkeit in mich aufzunehmen und nach seinem Bild und Gleichnis gestaltet zu werden. Vom heiligen Pfarrer von Ars wird erzählt, dass er beim täglichen Gang durch seine Kirche immer wieder einen Bauern antraf, der stundenlang in einer Bank saß und still zum Tabernakel schaute. Eines Tages sprach er ihn an: „Was tust du hier die ganze Zeit?“ Der Bauer antwortete: „Ich schaue Ihn an, und er schaut mich an. Das genügt.“ Mit dem Tagesgebet von Epiphanie beten wir zu Gott: „Führe uns vom Glauben zur unverhüllten Anschauung deiner Herrlichkeit.“

Ulrich Manz

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